C. Callow: Landscape, Tradition and Power in Medieval Iceland

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Titel
Landscape, Tradition and Power in Medieval Iceland. Dalir and the Eyjafjörður region c.870 – c.1265


Autor(en)
Callow, Chris
Reihe
The Northern World (80)
Erschienen
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 104,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Alexander van Nahl, Faculty of Icelandic and Comparative Cultural Studies, University of Iceland

Vielleicht eher der Charakter denn das Thema dieser Monographie wird bereits im Titel ersichtlich: „Landscape“, „Tradition“, „Power“ – mit diesen Schlagworten sind umfassende, unscharf begrenzte bis diffuse Forschungsgebiete der letzten Jahrzehnte benannt, auf denen die vorliegende Arbeit sich bewegt. Konkret geht es um Kontinuität, Entwicklung und Umbruch von Machtstrukturen im mittelalterlichen Island. Zwar erfolgt im Untertitel die geographische Eingrenzung auf zwei größere Regionen im Westen (Dalir) und Norden (Eyjafjörður) der Insel. Der zeitliche Rahmen von der Landnahme im 9. Jahrhundert bis zum Verlust der isländischen Unabhängigkeit um 1260 umfasst dann aber wiederum den Großteil jenes Zeitraums, der die Mediävistik mit Blick auf Island seit Langem umtreibt. Vor diesem zugleich viel und wenig sagenden Titel lässt sich das vorliegende Buch über weite Passagen also am ehesten im Sinne einer selektiven Bestandsaufnahme fassen. In fünf Großkapiteln werden ausgewählte, vor allem praktische Aspekte von Macht besprochen, einige recht konkret gefasst, wie die Institution des goðorð (im Sinne von Amtsgewalt), elitäre Heiraten oder genealogische Fragen zur Landnahme, andere sehr allgemein umschrieben, wie die Sektion „Patterns of Power“. Viele Kapitel fußen explizit auf den Thesen der (isländischen) Geschichtswissenschaft und Archäologie, mit frequentem Rekurs auf ausgewählte Forscher der letzten Jahrzehnte, die teils detailliert nachgewiesen, teils zu Kapitelanfang als generelle Quellen der weiteren Darstellung genannt werden.

Daneben steht die pointierte Nacherzählung ausgewählter Passagen einiger altisländischer Erzählungen, allerdings, für eine Fachpublikation eher ungewöhnlich, ohne Textzitate. Der Quellenwert dieser Erzählungen ist seit dem 19. Jahrhundert in kritischer Diskussion, wird aber vor allem in der geschichtswissenschaftlichen Forschung immer noch recht hoch eingeschätzt für die Rekonstruktion einer historischen Realität. Callow macht insofern zu Recht (und wahrlich nicht als Erster) darauf aufmerksam, dass sich gerade das enorme Corpus an altisländischer Sagaliteratur zwar oft mit den ersten Jahrhunderten nach der Landnahme ab etwa 870 n. Chr. auseinandersetze, die Verschriftlichung dieser Erzählungen (falls von mündlichen Vorstufen zu sprechen ist) allerdings erst ins 13. Jahrhundert datiere. Mit Blick auf die erhaltenen Handschriften müsste man korrekterweise sogar auf noch jüngere Zeit schauen.

Diese grundlegende Quellenkritik bleibt im Buch bloß angedeutet und die wenigen Verweise auf literaturwissenschaftliche Forschung erfassen die Problematik kaum befriedigend. Mag sein, dass der Verfasser hier eben allgemeine Kenntnis bei der Fachleserschaft voraussetzt, irritierend bleibt es dennoch, wenn er oft allein auf jahrzehntealte Publikationen rekurriert (und dabei etwa die altbekannte Debatte von Frei- und Buchprosa nochmals skizziert), jüngere Forschung hingegen allenfalls sporadisch erfasst. Der Bezug gerade zu deutscher Forschung beschränkt sich im Übrigen auf die (wichtigen) Studien von Rolf Heller in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts1, von denen Callow bemerkenswerterweise über ein Dutzend zitiert. Andere deutschsprachige Publikationen bleiben außen vor und damit wiederum eine Bandbreite an aktuellen Studien, die bisweilen durchaus neue Akzente in der Saga-Forschung gesetzt haben.2 Ein kleiner Anhang beschäftigt sich schließlich etwas eingehender mit der Sturlunga saga-Kompilation, eine Sammlung an Erzählungen, die in zwei Handschriften aus dem 14. Jahrhundert überliefert ist und in einer Mischung von Fakt und Fiktion die Ereignisse auf Island im 12. und 13. Jahrhundert darlegt. Für Callow stellt diese Kompilation eine Hauptquelle dar, die er vielfach verwendet, doch bleibt es auch hier wesentlich bei einer knappen Zusammenfassung der Erzählinhalte.

Der Versuch des Verfassers, geschichtswissenschaftliche, archäologische und literaturwissenschaftliche Zugänge fruchtbar zu kombinieren, ist genauso begrüßenswert wie herausfordernd. Insofern mag es nicht verwundern, dass Callow als Mittelalterhistoriker der literarischen Dimension der behandelten Quellen nur am Rande Aufmerksamkeit widmet und auch sein Bezug zu archäologischen Funden und Befunden eher kursorisch bleibt. Ergiebig wäre der konkrete Einstieg in die schriftlichen Quellen bisweilen fraglos gewesen; das Buch richtet sich ja doch in jeder Hinsicht an die Fachleserschaft, der eine solche Lektüre zuzutrauen gewesen wäre und bei der auch eine entsprechende Erwartungshaltung vorausgesetzt werden kann. Callow verzichtet wie gesagt darauf und so bleibt Leserinnen und Lesern allein der wiederholte Griff zu den verwendeten Editionen (nachgewiesen über Seitenzahlen in den Fußnoten), um diese Textarbeit selbst zu leisten. Der Verfasser hat sicherlich durchaus genau gelesen, warum er andere an seiner Lesung dann nicht konkret teilhaben lässt, ist fraglich und tut der Überzeugungskraft der dargelegten Thesen letztlich einen kleinen Abbruch.

Verdienstvoll ist die zwar selektive, aber umfangreiche Aufarbeitung und Perspektivierung vornehmlich der isländischen Forschung, die damit einer größeren Leserschaft vermutlich erstmalig zugänglich gemacht wird; gerade das Neuisländische ist auch für viele Fachleute eine Hürde. Für die Sturlunga saga musste Callow noch auf eine alte Edition aus den 1940er-Jahren zurückgreifen; seit 2021 liegen nun nach langer Editionsarbeit endlich die entsprechenden Bände in der Standardreihe „Íslenzk fornrit“ vor. Nicht zuletzt aufgrund einer bis vor Kurzem also nicht existenten aktuellen Edition der Sturlunga saga (und immer noch dem Fehlen einer kritischen Übersetzung) ist diese mittelalterliche Erzählung bisher wesentlich das Terrain isländischer Forscher geblieben. Das mag sich in den kommenden Jahren auf Grundlage der jüngsten Ausgabe ein wenig ändern, doch Callows Zusammenschau an eloquenten Nacherzählungen und relevanten Forschungsmeinungen bietet weiterhin eine Grundlage für die nähere Auseinandersetzung.

Im Schlusskapitel betont der Verfasser ein weiteres Mal den Nutzen, den die genauere Betrachtung der Überlieferung in begrenzten geographischen Räumen haben kann. Daran ist nicht zu rütteln. Das gleiche gilt für seine Einschätzung, dem individuellen Text müsse gegenüber genreumfassenden Betrachtungen der Vorzug gelten. Die Argumentation soll also auf dem Detail und schließlich der Summe an herausgestellten Einzelheiten beruhen. Hier hätte man insofern gerne das konkrete Detail im Text gesehen. Der Verzicht darauf mag die Fachleserschaft wie gesagt zunächst irritieren. Doch wird Callows Buch vielleicht gerade durch diesen ungewohnten Verzicht zu einer ansprechenden Lektüre zwischen Altbekanntem und neuer Sichtweise auf die gesellschaftspolitische Entwicklung im mittelalterlichen Island.

Anmerkungen:
1 Darunter etwa Rolf Heller, Laxdæla saga und Sturlunga saga, in: Arkiv för nordisk filologi 76 (1961), S. 112-133; Rolf Heller, Die Laxdæla saga: Die literarische Schöpfung eines Isländers des 13. Jahrhunderts, Berlin 1976; Rolf Heller, Sturla Þorðarson und die Isländersagas. Überlegungen zu einer wichtigen Frage in der Sagaforschung, in: Arkiv för nordisk filologi 93 (1978), S. 138-144.
2 Etwa Klaus Böldl, Eigi Einhamr. Beiträge zum Weltbild der Eyrbyggja und anderer Isländersagas, Berlin / New York 2005; Anita Sauckel, Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasögur und Íslendingaþættir, Berlin / Boston 2014.

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